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Letzte Instanz Agape Songtext


Letzte Instanz Agape Songtext
Die Fähre war voller Menschen. Wellen brachen sich am Bug. Die Sonne hatte Mühe durch die Wolken zu brechen. Schnell zogen sie dahin und kündigten den Herbst an. Die Menschen saßen dicht an dicht und hielten sich fest, so sehr schaukelte das Boot durch die Meerenge, um sie aus dem Gewirr der Stadt zur Ruhe der Inseln zu bringen. Verschwommen tauchte ihre Insel aus dem nasskalten Nebel auf. Es ist schön nach Hause zu kommen, dachte sie und lächelte dabei. Ihr Mann wird am Steg, wie jeden Tag, auf sie warten. Seit Jahren tat er das und jeden Tag freute sie sich neu darüber. Sie konnte fast nicht glauben, dass sie hier schon so lange lebte.
Frei, Wolken hingen schwer im Himmel. Draußen bimmelte eine Straßenbahn und ließ sie aus der Ruhe schrecken. Ihre kleine Wohnung war sauber und doch chaotisch. Bücher, Romane und Übersetzungshilfen lagen auf dem gefegten Boden. Sauberes Geschirr quoll aus dem Waschbecken ihrer kleinen Küche. Wäsche lag auf dem Bett, frisch gebügelt und zusammengelegt. Niemand beschwerte sich über die Unordnung. Sie war frei. Bilder aus dem Ort ihrer Kindheit hingen schon an der Wand. Fotos der damaligen großen Stadt vom Meer und von der Insel lagen nach auf dem Regal und warteten seit einem Jahr darauf aufgehängt zu werden. Sie hatte ja Zeit. Das Radio spielte Melodien und verbannte die Einsamkeit in die Tiefen ihres Geistes. Tagsüber arbeitete sie als Übersetzerin. Sie konnte sich mittlerweile gut in der Sprache der fremden Arbeiter ausdrücken und sie kannte deren Mentalität. Manchmal nur zeriss es ihr fast das Herz. Irgendetwas hoffte auf ein Wiedersehen und ließ sie, seine Sprache besser sprechen lernen. Doch etwas anderes scheute sich davor und hielt ihr die Vergangenheit und ihre Niederlage vor. Es war besser hier zu sein, bei ihrer Kultur. Hier verstand sie sich besser. Hier war das Alleinsein nicht ganz so schwer. Es klopfte an der Tür oder im Radio.
Aufs Land wollte sie nicht mehr. Hier, in dieser Stadt, sprach man mittlerweile vier Sprachen, an Himmelsrichtungen ausgerichtet. Man ließ Gott, trotz der Liebe zu ihm, einen guten Mann sein, über Sektorengrenzen hinweg. Sie schaute auf den Wäscheberg und machte sich daran ihn in die kleine Kommode zu räumen. Es klopfte erneut. Diesmal nahm sie es bewusst wahr. Es kam von der Tür. Der Moderator dort im Radio zitierte gerade Einstein. Was? Gedanken flogen die Zeit zurück, zurück auf die Insel: „ Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodie deines Herzens kennt und sie dir vorspielt, wenn du sie vergessen hast“.
An der ersten Insel wurde das Boot schon leerer. Sie grüßte einzelne Leute, die mit ihr auf ihrer Insel wohnten. Man fragte nach dem Befinden und unterhielt sich über den Tag, über das Wochenende. Man versprach sich zu besuchen. Schwer tuckerte der Motor und schob die Fähre immer weiter durch das dunkelschäumende Wasser. Gischt spritze auf. Die Menschen rückten zusammen und kauerten sich in ihre Gedanken. Der Abend brach herein und einzeln leuchteten schon die Lichter an beiden Ufern. Wie es ihrem Mann ging, wurde sie gefragt. Eigentlich war er wieder ganz der alte. Schlaganfall, Herzstillstand, doch noch nicht unter zu kriegen. Sie freute sich über ihren starken Mann und die Nachbarn freuten sich mit ihr. Und alles sank wieder in herbstliches Schweigen, aneinander gerückt.
Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie öffnete. In ihrer Tür stand der Mann, der ihr das Tor zur Welt geöffnet und in seine Welt geschlossen hatte. Vor ihr stand der Mann, dem sie ihr Herz geöffnet und in selbiges geschlossen hatte. In diesem Moment fühlte sie, wie sehr er ihr gefehlt hatte. Ruhiger, als das Klopfen in ihrer Brust, begrüßte sie ihn in seiner Sprache. Er erwiderte den Gruß in ihrer und fortan schweigend sahen sie sich an. Er lächelte. Nach Unzeiten bot sie ihm Eintritt an. Sie ging in die Küche, machte Tee, während er sich die Fotos seiner Heimatstadt ansah, die auf dem Regal lagen. Er blieb. Bei Landsleuten kam er anfangs unter, bekam bei ihnen Arbeit und tat sich unter allen anderen hervor, da er beinahe perfekt das hiesige Idiom sprechen konnte. Damals war es drei Jahre her, als sie sich zum ersten Mal sahen. Zwei Jahre davon verstanden sie sich nur mäßig. Zwei Jahre davon war jeder mehr mit sich beschäftigt, als mit dem Partner. Ein Jahr in Einsamkeit ließ ihn über sich hinauswachsen. Er lernte von Schriftstellern, von Dichtern, Thomas Mann, Fontane. Es war fast lustig ihm zuzuhören, wenn er redete, denn seine Lehrer waren ja nun einmal nicht mehr die jüngsten. Im vierten Jahr heirateten sie. Den Ring hatte er aufbewahrt, in einem kleinen Lederbeutel um den Hals getragen, ließ dieser ihn nicht vergessen, wen er liebte. Auch das Kleid lag eines Morgens wieder auf ihrem Bette. Diesmal zog sie es an und trug es zum Altar. Der Pfarrer segnete sie und ihn und empfahl sie der Liebe des Herrn. Sie zogen von der kleinen Wohnung in das Obergeschoss der Stadtrandvilla und kamen dort gut zurecht. Freunde beider Mentalitäten gingen bei ihnen ein und aus. Sonntags morgens begleitete er sie in die Kirche, er hörte zu und kehrte, genau wie sie, für einen Moment in sich. Die Füße wusch er sich zu Hause. Sein Gebetskäppi nahm er ab und hielt es währenddessen liebevoll in der Hand. Die Andacht war die selbe. Wie damals, als sie sich kennen lernten, erzähle er viel von zu Hause. Ihm lag eine Fröhlichkeit inne, als hätte er gern seine Heimat verlassen und doch, im feinen Unterton hörte sie die Wehmut heraus. „Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodie deines Herzens kennt und sie dir vorspielt, wenn du sie vergessen hast“. Einstein war ein klugen Mann. Flugtickets waren schnell gekauft und ohne, dass er es ahnte, richtete sie alles ein, rief bei seiner Mutter an, die bereitete alles vor und so flogen sie eines Tages wieder in die große Stadt am Meer, seine Heimat. Er vermutete es als Besuch seiner Familie bis er sie nach den Rückflugtickets fragte, doch die hatte sie nicht.
Da stand er. Sie war sich nicht sicher, ob er sie sah, zumindest schaute er in ihre Richtung. Am Geländer des kleinen Piers hielt er sich fest und schaute. Ihr Mann, ihr Herz klopfte und ihre Gedanken, die Gedanken, die sie während der ganzen Überfahrt hatte, überschlugen sich. Liebe! Immer näher schob sich die Fähre durch die Wellen an den Pier.
Das Haus, man merkte, dass es verlassen war. Der Garten war ein wenig ungepflegt. Die Balustrade auf seiner, ihrer Terrasse könnte einen neuen Anstrich vertragen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Diesmal würde sie gewinnen. Diesmal würde sie nicht aufgeben und sich von Heimweh packen lassen. Er werkelte und baute an dem Haus, reparierte, strich die Fassade neu, ölte die Torscharniere. Sie machte sich am Garten zu schaffen, pflanzte Olivenbäume, rupfte Unkraut, goss und machte alles wieder ansehnlich. Wieder kam Besuch, Freunde, Bekannte, Familien. Diesmal hatte sie Teil an den Gesprächen, sie verstand. Freitags ging sie mit ihrem Mann in die Moschee, band sich ein Tuch um den Kopf und betete mit ihm. Die Andacht war die selbe. Die alljährlichen Fastenmonate stand sie mit ihm durch. Feiertage wurde gemeinsam begangen, denn ihre Götter waren sich nun nicht mehr fremd. Sie fand Arbeit in der Stadt. Seit über einem Vierteljahrhundert ging sie tagtäglich nun also hinunter zum kleinen Hafen ihrer Insel und begab sich mit ihren wenigen Nachbarn ans Festland. Sie war angesehen auf ihrer Insel. Fischer hatten Ehrfurcht vor ihr und luden sie auf einen Tee ein, um ihren Geschichten aus der Heimat zu lauschen. In der Firma wurde sie die Anführerin genannt. Sie wurde als eine von ihnen geachtet. Dem Schlaganfall folgte Parkinson. Sie umsorgte ihren Mann, wenn sie heimkam und ging mit ihm spazieren, erzählte von der Arbeit. Er hörte aufmerksam zu, gab ihr Ratschläge, wo sie vonnöten waren. Auch an ihr, hinterließ die Zeit ihre Spuren, doch ihrer beiden Seelen waren jung geblieben. Sie scherzten abends. Wie junge Leute schmusten sie, saßen gemeinsam auf der dunklen Bank und redeten.
Die Fähre stieß an den Pier. Ein leichtes Rucken ging durch die Körper auf dem Schiff. Einige machten sich schon auf. Sie konnten die Ruhe der Insel kaum erwarten. Auch sie stand nun auf, ging zur Reling ohne ihren Mann aus den Augen zu lassen. Jener hatte sie schon entdeckt. Ein jugendliches Lächeln huschte über seine Lippen und grub sich in die Falten seiner Augenlider. Langsam, unendlich langsam hob er einen Arm zum Gruß. Sie stieg aus, lief auf ihn zu. Ihre Hände fanden sich und er zog sie an sich heran. Ein Kuss, so zitternd, so hilflos, und doch so zeitlos schön. Durch die Wolken brachen Strahlen und eine tiefrote Sonne zeigte für die letzten Minuten des Tages doch noch ihre herbstliche Schönheit. Langsam, Hand in Hand, gingen beide, wie jeden Tag nach Hause. Würden sich, wenn die Sonne untergegangen war, auf ihre Terrasse setzten und Masala Chai trinken.
Wenn je ein Tag vorbeigeht, an dem ich nicht sage: „Ich liebe dich!“, so wisse immer, dass ich es doch tue.